Beat Grossrieder
Maggi sitzt in einem Gartencafé auf dem Idaplatz in Zürich. Das Beispiel mit den Lindenblüten zum Selberpflücken bringt für ihn auf den Punkt, wie Mensch und Natur in einer Stadt harmonieren müssten. Wer vom Baum ernte, der neben seinem Haus wachse, entwickle einen sorgfältigeren Umgang damit und einen neuen Blick auf die Stadtnatur. «Je grüner eine Stadt ist und je mehr wir das Grün auch nutzen können, desto mehr Lebensqualität bietet uns die Stadt.»
Urban Gardening liegt im Trend: Von Amsterdam bis Stockholm stellen Städter Holzkisten auf die Strassen, füllen sie mit Erde und lassen darin Beeren und Gemüse, Kräuter und Obst spriessen. Hochbeete stehen in Hinterhöfen und bei Siedlungen, zieren brachliegende Grundstücke und sind beim Altersheim genauso anzutreffen wie beim Jugendhaus. Kein Zweifel: Die Schweizer Städte sind grüner geworden.
Dass es dafür Pioniere gebraucht hat, geht oft vergessen. Maurice Maggi ist so ein Wegbereiter, ohne den Zürich heute nicht so sprösse. Das hat auch damit zu tun, dass Maggi gern über den eigenen Gartenhag schaut. Inspirieren lässt sich der 61-Jährige vor allem von New York. Anfang der neunziger Jahre reiste er erstmals in die pulsierende Stadt, um dort als Küchenchef zu arbeiten. Er lernte die Green-Guerilla-Bewegung kennen, die dort seit den siebziger Jahren aktiv ist.
«Es müsste konsequent das Recht des Schwächeren gelten. Zuerst kommt die Natur, dann der Fussgänger, dann das Velo, dann am Schluss das Auto.»
Maggi selbst hatte in den frühen achtziger Jahren sein Markenzeichen entwickelt: das Guerilla Gardening mit Blumen-Graffiti. Statt mit Spraydose zieht er nachts mit Pflanzensamen durch die Gassen und sät diese heimlich aus. Vor allem Malven haben es ihm angetan: Die «Rose der Bauerngärten» blüht von Juni bis zum ersten Frost, ist anspruchslos und robust, hat eine breite Farbpalette von Weiss bis Violett. «Sie blüht auf Augenhöhe und wirkt beruhigend auf den Verkehr», sagt der Landschaftsgärtner überzeugt. Stünden Malven an einer Kreuzung, führe dies zu einer harmonischen Brechung der Strassenlinien und zu einer Entschleunigung.
Neben dem Stadtgrün ist das gute Miteinander im städtischen Raum ein weiteres Anliegen des Guerilla-Gärtners. Der öffentliche Raum werde immer wichtiger, weil sich die Stadt gegen innen verdichte. Das führe dazu, dass sich die Menschen mehr draussen auf Strassen und Plätzen aufhielten. Diesen Räumen müsse man Sorge tragen: «Es müsste konsequent das Recht des Schwächeren gelten. Zuerst kommt die Natur, dann der Fussgänger, dann das Velo, dann am Schluss das Auto. Leider gilt bei uns nach wie vor das Recht des Stärkeren, das Auto dominiert alles.»
Dass es auch anders geht, wurde dem Zürcher kürzlich in New York bewusst. Mit Glanz in den Augen berichtet Maggi von seinem letzten Aufenthalt im Big Apple. Zu Weihnachten 2015 erfüllte er sich einen Traum und fuhr mit dem Atlantikdampfer «Queen Mary 2» an die Ostküste. «Es war ein erhebendes Gefühl, mit dem Schiff in den Hafen einzulaufen und an der Freiheitsstatue vorbeizugleiten, so wie es früher die Auswanderer gemacht hatten.» Von New York brachte Maggi viele Ideen mit. «Bis 2030 will die Stadt die grünste Metropole der Welt werden», berichtet er und redet sich ins Feuer. New York habe ein Programm lanciert, um nachhaltiger zu werden. Zum Beispiel habe die Stadt in den letzten Jahren eine Million Bäume gesetzt. «Eine Million – das muss man sich einmal vorstellen!», sagt er und schüttelt lachend den Kopf.
Er selbst hat es kürzlich in Zürich mit vier Stück versucht – und ist gescheitert. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hatte er an einer zentralen Strasse vier Obstbäume in Beete gepflanzt, die das städtische Gartenamt für Zierbäume vorbereitet hatte. Die Bäumchen wurden von Anwohnern, Kindern und Passanten sofort ins Herz geschlossen; sie gossen sie und freuten sich darauf, im Herbst die Früchte zu ernten. Doch so weit kam es nicht: Grün Stadt Zürich grub die Bäume wieder aus und versetze sie an einen anderen Ort. Dort ginge es den Bäumen besser, war die Begründung, am alten Ort hätten sie unter Streusalz und Hitze zu leiden gehabt und Passanten behindert. Maggi hält diese Argumente für vorgeschoben: «Die Bäume wären dort genau richtig gewesen, weil sie den Menschen vor Ort etwas gebracht hätten.»
Dann kommt er wieder auf New York zu sprechen: Die Stadt habe nicht nur viel Grün gepflanzt, sondern konsequent die Quartiere autonomer gemacht und das Velo gefördert. So konnte man den Footprint an Kohlendioxid um gut einen Fünftel senken. Bis 2050 wolle New York City diesen Ausstoss gar um achtzig Prozent reduzieren. «Wie in New York sollten die Quartiere auch in Zürich und anderen Städten autonomer werden und sich weitgehend selbst versorgen», sagt Maggi. Wo jedes Quartier eigene Parks pflege, eigenes Gemüse anbaue und auch Arbeit, Kultur und Bildung ihren Platz hätten, schrumpfe die Mobilität von selbst aufs Minimum. Dies erhöhe die Lebensqualität und sorge erst noch für stärkere soziale Bindungen.
Dass es Maurice Maggi ernst ist mit der Behauptung, die Stadtnatur müsse mehr Lebensmittel produzieren, beweist sein Buch «Essbare Stadt». Das 320 Seiten dicke Werk ist 2014 im AT-Verlag erschienen und versammelt siebzig vegetarische Rezepte mit Pflanzen aus der Stadt von Ahorn, Bärlauch, Berberitze bis Mistel, Spitzwegerich, Weissdorn. Zu jeder Jahreszeit, auch im Winter, zieht Maggi los und sammelt vor der Haustür Pflanzen, die er fürs Kochen braucht. Beispiel: Kaum wird es Frühling, zupft er jungen Löwenzahn, macht daraus Salat mit einer Sauce aus hausgemachtem Waldmeisteressig und serviert diesen mit eigenen Huflattich-Blinis und eigenem Bärlauch-Brunnenkresse-Pesto.
So wie in der Natur nichts von heute auf morgen gedeihe, benötige auch eine Stadt Zeit, bis sich etwas verändere.
Was abenteuerlich tönt, ist bei Maggi ein überlegter, ritualisierter Ablauf. Er sammelt nicht einfach blindlings drauflos, was die Stadtnatur hergibt, sondern geht bedächtig ans Werk. Er nimmt nur das, was er kennt, und nur so viel, wie er braucht. Er lässt immer genug stehen, damit andere auch noch etwas vorfinden und genug übrig bleibt fürs langfristige Überleben der Art. Er rupft nicht aus, sondern schneidet mit dem Messer ab; so erholt sich die Pflanze besser. Er sammelt nicht in Schutzgebieten und lässt geschützte Arten stehen. Er nimmt nicht von überall, sondern meidet Hundewege, befahrene Strassen und nach Urin riechende Ecken.
Dass man ihn als Guerilla-Gärtner bezeichnet, stört Maurice Maggi nicht. Jedoch versteht er seine Kunst als ein sanftes Mittel, um Prozesse in Gang zu bringen. Im Gegensatz zu Guerilla-Aktionen, die auf Gewalt setzten, brauchten seine Initiativen vor allem eines: Geduld. So wie in der Natur nichts von heute auf morgen gedeihe, benötige auch eine Stadt als Organismus Zeit, bis sich etwas verändere. Zuerst müsse in den Köpfen der Bewohner ein Umdenken einsetzen, dann schwenkten auch die Behörden um – und irgendwann seien die neuen Ideen salonfähig.
Maggi sieht dies exemplarisch bei seinen floralen Graffiti: Bis in die achtziger Jahre habe Grün Stadt Zürich alle seine heimlich gepflanzten Blumen entfernt. Das habe sich inzwischen grundlegend geändert, die Stadt lasse die Malven stehen und freue sich sogar darüber. Mehr noch: Macht Schweiz Tourismus heute im Ausland Werbung für Zürich, präsentiert die Organisation nicht selten Strassenbilder, auf denen uns Maggis Malven entgegenleuchten.
Schön, dass meine rebellischen Aktionen da ihren Anklang finden. Ich habe dies mir in den 80er Jahren nie träumen lassen, als ich meine ersten Samen in Zürich streute.