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NZZ

7.8.2018

Alles, was ich in der Stadt nicht ernte, ist verschwendetes Essen

Maurice Maggi hat in Zürich schon heimlich Wildblumen ausgesät, als noch niemand ahnte, was mit «Urban Gardening» dereinst gemeint sein könnte.

Maurice Maggi hat in Zürich schon heimlich Wildblumen ausgesät, als noch niemand ahnte, was mit «Urban Gardening» dereinst gemeint sein könnte. Er plädiert dafür, die Natur in der Stadt zu fördern und so auch zu einem bewussteren Umgang mit Nahrungsmitteln beizutragen.

Kathrin Alder

Herr Maggi, was haben Sie heute gefrühstückt?

Das Übliche. Ein Ei, Brot, ein bisschen Käse, dazu Kaffee.

Nichts, was Sie selbst gepflückt oder gesammelt haben?

Doch, ein bisschen Himbeerkonfi. Himbeeren wachsen in der Stadt aber selten wild. Die Himbeere ist ein Halbschattengewächs, solche Standorte gibt es in der Stadt wenige.

Sie haben vor über dreissig Jahren angefangen, der Stadt Zürich ein Stück Natur zurückzugeben, und haben im öffentlichen Raum Wildblumen ausgesät. Heute sagt man dazu «Guerilla-Gardening». Können Sie das Wort Pionier überhaupt noch hören?

Gut, ich habe relativ früh mit etwas angefangen, in meinem Fall war es, nachts durch die Stadt zu ziehen und Samen von Wildblumen zu streuen. Dem sagt man halt Pionierarbeit.

Maurice Maggi, Zürcher Guerilla-Gärtner und Koch. (Bild: Dominic Steinmann / NZZ)
Maurice Maggi, Zürcher Guerilla-Gärtner und Koch.
(Bild: Dominic Steinmann/NZZ)

Ahnten Sie, was Sie mit Ihren Guerilla-Aktionen auslösen würden?

Ich glaube, das ist mit jeder Subkultur, Avantgarde oder Revolution so. Man träumt von einem Wechsel, von Veränderung. Aber natürlich hätte ich damals nie gedacht, dass aus meiner floralen Anarchie dereinst ein breit angelegter und anhaltender Trend wird, dass Gärtnern heute wieder als hip gilt und dass insbesondere junge Städter Familiengärten pachten und auf ihren Balkonen allerlei alte Gemüsesorten anbauen.

Urban Gardening ist tatsächlich eine Modeerscheinung. Aber in meinen Augen eine sehr kluge.

Sie sagen es selbst: Urban Gardening, das städtische Gärtnern, ist zu einem Trend geworden. Stört Sie das?

Urban Gardening ist tatsächlich eine Modeerscheinung. Aber in meinen Augen eine sehr kluge. Unsere Gesellschaft muss Ressourcen schonen, nachhaltiger und bewusster werden, gerade beim Essen. Wenn solche Veränderungen nicht mit Gesetzen oder Verboten erzwungen werden müssen, sondern über Trends von selbst passieren – umso besser. So gesehen stört mich der Trend überhaupt nicht.

Sehen Sie Ihre Arbeit als politischen Akt?

Wenn es ein politischer Akt ist, sich für ein sorgsames und achtsames Leben, für das Recht des Schwächeren einzusetzen, dann schon. Was schwach ist, sollten wir fördern, eben zum Beispiel die Natur in der Stadt. Nicht alle Flächen versiegeln, in den Strassen Obstbäume pflanzen, Räume öffnen. Dafür setzte ich mich mit meinen Guerilla-Aktionen ein.

Nun säen Sie aber nicht nur, Sie ernten auch. Vor allem Wildkräuter und Wildblumen, die Sie auf Ihren Spaziergängen durch die Stadt finden. Sie haben sogar ein Kochbuch darüber geschrieben.

Auch das Ernten ist ein politischer Akt. Ich sehe es so: Alles, was ich in der Stadt nicht ernte, ist im Prinzip verschwendetes Essen, Food-Waste. Wenn ich zum Beispiel an der Bertastrasse die vielen Wildpflaumen sehe, die herunterfallen, dann denke ich:

Wieso erntet die niemand?

Weil niemand muss. Man kann sich Pflaumen ja im Grossverteiler kaufen.

Oder weil schlicht niemand weiss, dass man sie ernten kann?

Klar, beides stimmt. Wobei ich anmerken muss: Ich bin vielleicht derjenige, der das Stadt-Ernten in die Neuzeit gebracht hat. Aber Anbauen und Ernten in urbanen Räumen ist nichts Neues, das wurde früher sogar viel häufiger gemacht. Denken Sie an die Gartenstadt Schwamendingen oder an die «Anbauschlacht» während des Zweiten Weltkriegs. Damals sagte man: Wir müssen selbst Verantwortung für unsere Nahrungsmittelproduktion übernehmen.

Die «Anbauschlacht» hatte ihren Ursprung in der Angst vor dem Mangel. Davon kann heute ja keine Rede sein.

Einverstanden, heute geht es vor allem um den Nachhaltigkeitsgedanken. Aber auch der entsteht aus einer Angst heraus.

Was geschieht mit unserem Planeten, wenn wir weiterhin so verschwenderisch leben?

Im November jährt sich in der Stadt Zürich die Abstimmung zur 2000-Watt-Gesellschaft zum zehnten Mal. Vor einem Monat hat die Stadt deshalb alle, die mit Lebensmitteln zu tun haben, zu einem Kongress geladen. Und man hat festgestellt: Wir sind noch lange nicht da, wo wir sein sollten und wollten. Gerade im Nahrungsmittelsektor muss noch unglaublich viel getan werden.

Zum Beispiel?

Der ganze Transport-Irrsinn: Bio-Kartoffeln werden in Deutschland geerntet, in Marokko gewaschen und verpackt und hier wieder verkauft. Oder die Art, wie wir produzieren. Zurzeit haben wir bestes Gemüse, erntefrische Tomaten und Zucchetti, die kiloweise kompostiert werden, weil sie niemand kauft. In der Schweiz wird rund ein Drittel des produzierten Gemüses wieder untergepflügt und so vernichtet, weil es nicht den Normen entspricht. Wir gehen fahrlässig mit unseren Nahrungsmitteln um.

Was könnten wir denn besser machen?

Man muss Produzenten und Konsumenten wieder näher zusammenbringen, es braucht ein Essen der kurzen Wege. Das passiert auch, auf den Wochenmärkten zum Beispiel. Ich ging schon mit meiner Mutter in Oerlikon auf den Markt und tue es auch heute noch. So sehe ich, was gerade Saison hat und wie jemand produziert. Der Kontakt mit den Produzenten ist mir wichtig. Zum Glück sind Märkte heute auch bei den Jüngeren wieder beliebt.

Wenn ich sehe, wie heute unsere Poulets gemästet werden, bis sie nicht mehr stehen können, wie sie schneller wachsen als ihre Federn, dann bin ich lieber Romantiker als Realist.

Biologisch, fair, regional – mit solchen Produkten können wir unser schlechtes Gewissen beruhigen.

Das ist mir zu negativ. Man kann vielleicht von einem neuen Gewissen sprechen – einem Gewissen unserer Umwelt gegenüber. Und natürlich sind solche Lebensmittel auch ein Statement, ein Statussymbol. Man will zeigen, dass man ein kultureller, ein kulinarisch gebildeter Mensch ist, selbst kocht, gesund isst, sich Gedanken macht.

In meiner Jugend war das Statussymbol noch der Porsche-Schlüssel.

Das mag sein. Aber seien wir ehrlich: Der Nachhaltigkeitstrend funktioniert in einem urbanen, gebildeten und begüterten Milieu. Von einer Breitenwirkung kann keine Rede sein.

Da halte ich dagegen. Zunächst einmal sollten wir gewisse Gesellschaftsschichten nicht unterschätzen. Erst kürzlich habe ich mich mit einem Taxifahrer über Ernährung unterhalten. Er hat das Thema von sich aus angesprochen und wir waren uns sehr einig. Das hat mich überrascht. Ausserdem beginnen Trends meistens in irgendeinem elitären Zirkel und strömen dann in breite Bevölkerungskreise. Man sieht das in der Spitzengastronomie. Die weltbesten Köche haben sich verpflichtet, ihre Waren im Umkreis von achtzig Kilometern zu beziehen. Das tun heute auch viele Restaurants in Zürich. Und mein Metzger sagt mir, er habe gar nicht so viel Suppenhuhn oder Kuhfleisch, wie er der Gastronomie hier verkaufen könnte. Früher hiess es noch: Kuhfleisch verkocht man im Militär.

Gespräche zur Frage des Essens

In diesen Sommerwochen publiziert die NZZ eine kleine Gesprächsreihe, in der wir uns diversen Fragen des Essens zuwenden. Insgesamt erscheinen sechs Gespräche. Die Beiträge finden Sie hier.

Nachhaltigkeit verkauft sich gut, auch in der Gastronomie. Einfache Küche mit Zutaten aus der Region – ein weiterer Trend, der irgendwann wieder vorbeizieht.

Das glaube ich nicht. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil unsere Gesellschaft umdenken muss. Im Jahr 2030 werden achtzig Prozent der Menschheit in Grossstädten leben. Dem muss man gerecht werden, auch beim Essen.

Was schlagen Sie vor?

Es gibt heute schon Städte, die nachhaltiges Essen fördern, und zwar mit einer Konsequenz, über die ich staune. In New York zum Beispiel, wo ich eine Weile gelebt habe, werden in den Quartieren wieder Nahrungsmittel angebaut, im Hinterhof hält man Schweine und Hühner. So wird ein Leben in Fussdistanz wieder möglich.

Ich bitte Sie, das ist reine Romantik. Man kann doch die Weltbevölkerung nicht mit ein paar Schweinen, Hühnern und Gemüse vom Hinterhof ernähren.

Klar, das alles hat auch mit einer Sehnsucht nach der Rückkehr zu den Wurzeln zu tun. Vielleicht ist es auch etwas träumerisch. Aber wenn ich sehe, wie heute unsere Poulets gemästet werden, bis sie nicht mehr stehen können, wie sie schneller wachsen als ihre Federn, dann bin ich lieber Romantiker als Realist. Es geht doch darum, dass wir wieder einen Bezug zu unseren Lebensmitteln herstellen müssen. Wenn ich über Monate eine Tomate gegossen und gepflegt habe, dann esse ich sie auch, wenn sie nicht perfekt aussieht. Wenn sie so beim Grossverteiler liegt, dann wollen sie die meisten Leute nicht.

Essen ist für die heutige Gesellschaft jederzeit verfügbar. Aus Knappheit wurde innerhalb zweier Generationen Überfluss.

Was macht das mit uns?

Es ist problematisch, dass immer alle Produkte erhältlich sind. Das heutige Angebot macht es extrem schwierig, sich an der Saison zu orientieren. Ich bin allerdings der Ansicht, dass wir heute im Grunde dieselbe Problematik haben wie zu Zeiten der Knappheit.

Wie meinen Sie das?

Als Nahrungsmittel knapp waren, musste man auch sorgfältiger mit ihnen umgehen. Und genau das müssen wir doch auch heute tun. Nicht, um eine Knappheit zu überwinden, sondern um dem Überfluss, dem Produktionsblödsinn, dem Food-Waste etwas entgegenzusetzen. Wir müssen wieder lernen, Lebensmittel einzumachen und besser zu verwerten.

Ein selbstgekochtes Essen schmeckt immer besser als gekauftes Fast Food.

Wenn ich Ihnen so zuhöre, habe ich den Eindruck, das Thema Essen wurde nicht nur politischer, sondern auch intellektueller.

Ja, das ist so. Es gibt beim Essen sehr viele Aspekte, über die man heute nachdenken muss: von Ethik über Allergien und Unverträglichkeiten bis zur Unterscheidung zwischen gesunden und ungesunden Lebensmitteln. Wer im Januar Erdbeeren aus Chile kauft oder Junk-Food isst, muss sich rechtfertigen.

Essen soll auch etwas Sinnliches, etwas Genussvolles und Intuitives sein. Wie geht das mit diesem verkopften Ansatz zusammen?

Das geht sehr gut zusammen. Je mehr ich mich mit Nahrungsmitteln auseinandersetze, desto höher ist mein Genuss. Ein selbstgekochtes Essen schmeckt immer besser als gekauftes Fast Food.

Wie beurteilen Sie Bewegungen wie den Veganismus?

Ich bin mir nicht sicher, ob Bewusstsein und Genuss da immer Hand in Hand gehen.

Veganismus ist für mich eine Art Rebellion. Die heutige Jugend hat es schwer, sich von ihren Eltern abzugrenzen. Will die Tochter ein Tattoo, dann hat die Mutter bestimmt schon eins. Trägt der Sohn ein Käppi, trägt es auch der Vater. Wenn das Kind aber nach Hause kommt und sagt, es esse nur noch vegan, dann ist der Krach programmiert. Die Eltern wissen nicht mehr, was sie kochen sollen, fürchten um die Versorgung mit Vitaminen und Eiweiss.

Sie halten also nicht viel davon?

Das würde ich so nicht sagen. Veganer sind in unserer Gesellschaft immer noch sehr selten, und trotzdem ist das Thema omnipräsent. Sogar die Grossverteiler bieten vegane Lebensmittel an. Veganer sind Teil dieser Nachhaltigkeitsbewegung und helfen so, das Bewusstsein zu schärfen. Ob am Familientisch, im Freundeskreis oder bei der Arbeit. Mir ist lieber, Veganismus liegt im Trend als Crevetten.

Gärtner und Kochald. Maurice Maggi wurde 1955 in Zürich geboren und wuchs in Rom und in der Schweiz auf. Er wollte Koch werden, doch aufgrund seiner Diabetes riet man ihm davon ab. So wurde er Landschaftsgärtner – und die Natur wurde zu seinem bestimmenden Thema: In den 1980er Jahren begann er damit, in der Stadt heimlich Wildblumen auszusäen, es war die Geburtsstunde des Guerilla-Gardening. Insbesondere die Malve wurde zu seinem Markenzeichen. Das Kochen gab er nie auf, erlernte es als Autodidakt. Er kochte unter anderem in verschiedenen Edelrestaurants in New York und für «Karl’s kühne Gassenschau».

2014 erschien sein Kochbuch «Essbare Stadt», zwei Jahre später «Einfache Vielfalt». Bis heute sind Wildpflanzen, die er selbst sammelt, das Markenzeichen seiner Küche. Bei den diesjährigen Gemeinderatswahlen der Stadt Zürich kandidierte er für die Grünen.

Dieser Artikel ist Teil des Jahresrückblicks «Das Beste aus 2018».

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